Zur Geschichte unseres Schulgebäudes
1. Der Architekt
Das Gebäude der Reformschule entstand nach den Plänen von Heinrich Seeling.
Seeling wurde 1852 in Zeulenroda (Thüringen) geboren. Nach dem Studium wurde er selbständiger Architekt und spezialisierte sich dabei auf Theaterbauten, die man noch heute zwischen Essen, Freiburg und Bydgoszcz (Bromberg) finden kann; auch das Berliner Ensemble – 1891/2 als Neues Theater am Schiffbauerdamm errichtet – stammt von ihm.
Seeling war Mitglied der Preußischen Akademie der Künste (1896), Professor (1917) und Stadtältester von Berlin (1924). Aber vor allem war er von 1907 bis 1921 -- als Charlottenburg in Groß-Berlin aufging – Stadtbaurat dieser Stadt. Und als solcher hat er eine Vielzahl von Bauwerken hinterlassen, die er teils allein entwarf, teils in Zusammenarbeit mit anderen Architekten. Zu diesen Bauten gehören u.a. einer der Wassertürme am Spandauer Damm (1909/10), der Erweiterungsbau des Rathauses (1911-15; jetzt Stadtbücherei), die Lietzensee-Kaskaden (1912/13), das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Deutsche Opernhaus (1911/12; jetzt Neubau Deutsche Oper), die March- und die Dovebrücke (1911) sowie mehrere Schulen: die Schiller-Oberschule (1911-13), die Eosander-Schinkel-Grundschule (1913/14) und eben auch die Reformschule. Man kann sagen, dass Seeling das Erscheinungsbild von Charlottenburg bis zum heutigen Tag mitgeprägt hat.
Heinrich Seeling starb 1932 und ist in einem Ehrengrab auf dem städtischen Friedhof in Wilmersdorf (Berliner Straße) beerdigt (Abteilung A1; Foto: C.).
Im März 1950 wurde die Potsdamer Straße in Charlottenburg (nahe dem Klausenerplatz) nach ihm umbenannt.
2. Das Gebäude
Im Jahr 1902 erwarb die Stadt Charlottenburg ein 7368 m² großes Grundstück an der damals noch als 'Straße 9' bezeichneten Sybelstraße für den Bau zweier weiterer Gemeindeschulen. Der Vorentwurf dazu stammte von dem Architekten Walter Spickendorff, damals Stadtbauinspektor, die endgültige Fassung von Seeling. Der Baubeginn war im Mai 1908.
Auf L-förmigem Grundriss entstand ein Bau mit einem Straßenabschnitt von 74 m Länge und einem 88 m langen Seitenflügel. Die Gebäudefront mit dem quadratischen Uhrturm ist auf die Roscherstraße ausgerichtet ist, die hier auf die Sybelstraße stößt. Schon vom Kurfürstendamm aus sieht man die von einer Haube gekrönte offene Aussichtsplattform des Turmes (Gesamthöhe ca. 67 m) weit über die Wipfel der Straßenbäume emporragen.
Der 5geschossige Mauerwerksbau ist an der Straßenfront mit roten Ziegeln – teils im Fischgrätenmuster – verblendet, der Sockel und schmückende Elemente sind aus Muschelkalk. Die Fassade ist äußerst abwechslungsreich gegliedert durch zurückspringende Bauteile, Erker, Balkone, kleinteilige Schmuckreliefs und Giebel, wodurch die Gebäudemasse stark aufgelockert wird. Hinzu kommt ihre asymmetrische Anlage, die bedingt ist durch den aus der Mittelachse leicht nach rechts gerückten Uhrturm, den von steinernen Sitzbänken eingerahmten Doppeleingang für die Schüler auf der linken und als Gegenstück die Tordurchfahrt auf der rechten Seite sowie die im rechten Bauteil zusammengefassten, gemeinsam genutzten Räume, die an ihren großen Fenstern zu erkennen sind: unten die Turnhalle, darüber die Aula; schließlich unter der Traufe Klassenräume für Physik und Zeichnen.
Es fallen eine Vielzahl von dekorativen Elementen am und im Gebäude ins Auge. Dazu gehören u.a. die kleinteiligen Sprossenfenster, die in Stein gemeißelte Inschrift „25. und 26. Gemeindeschule“ über dem Doppeleingang , die von Mosaik umrahmte Schuluhr in der Eingangshalle mit der Ermahnung „Es eilt die Stunde – Nutze die Zeit“, die feingliedrige Gestaltung der Treppengeländer und die (ehemaligen) Trinkbrunnen aus dunkelgrün glasierten Kacheln auf den Fluren.
Stilistisch lässt sich der Bau einordnen in die Zeit des Übergangs vom Jugendstil zur Moderne.
Am 7. Oktober 1909 fand die Einweihung der Schule statt, deren Errichtung 956.400 Reichsmark gekostet hatte. Um 1920 erfolgten kleinere Umbauten. Die relativ geringen Kriegsschäden am Turm und obersten Stockwerk wurden 1951-53 behoben und dabei die Aula neu gestaltet. 1982-84 wurde das Gebäude in seiner ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt.
Seit Gründung der Reformschule 2009 finden im und am Haus noch lange nicht abgeschlossene Bauarbeiten statt, mit denen es für seine neue Nutzung hergerichtet werden soll: Einbau eines Fahrstuhls, Wiederherstellung der Lehrküche im Erdgeschoss des Seitenflügels, Beseitigung von Zwischenwänden, um Klassenräume für Gruppen von mehr als 40 Schülern zu schaffen, Einrichtung von Nebenflächen der Klassenzimmer für Garderobe und Schließfächer auf Kosten der überbreiten Flure („Entflurung“), Gruppenarbeitsplätze auf den Fluren u.s.w.
3. Die Nutzung des Gebäudes
Das Gebäude kann auf eine 107jährige Geschichte zurückblicken. In dieser Zeit gab es viel Kontinuität und manchen Wandel bei seiner Nutzung.
Ursprünglich war der Bau für zwei (damals achtjährige) Volksschulen errichtet worden: die 25. Gemeindeschule (gegründet am 1.4.1906 in der Lützowstr. 1/2, Knabenschule, im Straßenflügel untergebracht) und die 26. Gemeindeschule (gegründet am 8.1.1907, Mädchenschule, im Seitenflügel). Beide Schulen wurden 1925 umbenannt in 25. bzw. 26. Volksschule. Während des Krieges (1940-1945) wurden sie in die Sybelstraße 2/4 (heute Sophie-Charlotte-Oberschule) ausgelagert, da das Schulgebäude als Lazarett diente. Außerdem befand sich im letzten Jahr vor der Auslagerung (1939/40) die 21. Volksschule (Knabenschule) im Haus.
Neben den erwähnten Volksschulen waren in dem Zeitraum bis 1945 zwei weitere Schulen vorübergehend hier untergebracht: in den Jahren 1910 bis 1915 die Höhere Mädchenschule IV (gegründet 1909) und von 1935 bis 1939 die Gudrunschule/Mädchenmittelschule (1935 hier gegründet).
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten die 25. und 26. Volksschule in das Gebäude zurück. Die erstere (Knabenschule) bezog die Räume im Straßenflügel, die letztere (Mädchenschule) die im ersten und zweiten Obergeschoss des Seitenflügels.
Im Rahmen der Schulreform von 1951 wurden die beiden Schulen in koedukative Grundschulen (mit sechs Jahrgängen) umgewandelt und erhielten neue Namen: 3. bzw. 4. Grundschule. Gleichzeitig befand sich im Schuljahr 1951/52 hier noch eine dritte Grundschule: die 2. Grundschule (1873 als Mädchen-Stadtschule C gegründet); sie wurde jedoch nach einem Jahr in die 4. Grundschule aufgelöst.
Für die Schüler ab Klasse 7 musste eine Lösung in Form einer neuen Hauptschule gefunden werden. Daher zog 1955 die 1951 in der Danckelmannstraße 26/28 gegründete 4. OPZ (Oberschule Praktischer Zweig), in den dritten und vierten Stock des Seitenflügels.
1954 begann man in Westberlin, den Schulen Namen zu geben; seitdem hießen die drei im Haus befindlichen Schulen Goerdeler-Schule (3. Grundschule) (nach dem Juristen und nationalkonservativen Politiker Carl-Friedrich G. (1884-1945), der zum Kreis der Attentäter vom 20. Juli 1944 gehört hatte), Helene-Lange-Schule (4. Grundschule) (nach der Pädagogin und Frauenrechtlerin, 1848-1930) und Pommern-Schule (4. OPZ) (so genannt im Zusammenhang mit der Patenschaft, die der Bezirk Charlottenburg 1955 für die Landsmannschaft Pommern übernommen (und 2006 beendet) hatte).
Eine weitere Umbenennung erfolgte 1967 aufgrund einer neuen Nomenklatur in 3. G, Goerdeler-Grundschule, 4. G, Helene-Lange-Grundschule und 4. OH, Pommern-Hauptschule (schon zwei Jahre später erneut umbenannt in 1. OH, Pommern-Oberschule (Hauptschule)).
1980 tauschten die Goerdeler-Grundschule und die Pommern-Hauptschule ihre Räume, so dass die beiden Grundschulen jetzt gemeinsam im Seitenflügel untergebracht waren, getrennt von der Hauptschule. Jedoch wurde die Helene-Lange-Grundschule, nachdem sie 1981/82 nur noch einzügig war, im folgenden Schuljahr in die Goerdeler-Grundschule aufgelöst. So befanden sich ab dem Schuljahr 1982/83 nur noch diese und die Pommern-Oberschule im Gebäude.
1998 wurde die Grundschule in eine Staatliche Europa-Schule mit der sprachlichen Ausrichtung Deutsch-Polnisch umgewandelt (zwei Züge zweisprachig, der dritte Zug blieb einsprachig). Zehn Jahre später, am Ende des Schuljahrs 2007/08, erfolgte die Ausgliederung des deutsch-polnischen Teils der Schule an die Katharina-Heinroth-Grundschule, die seitdem Staatliche Europa-Schule Deutsch-Polnisch ist.
Der Hauptschule angeschlossen war seit 1959 eine Abendschule, auf der der einfache Hauptschulabschluß (9. Klasse) nachgeholt werden konnte; die Abendschule ist seit 2010 an die Peter-Ustinow-Schule verlagert .
Außerdem war viele Jahre lang bis 2009 freitags eine taiwanesische Schule im Gebäude untergebracht.
Mit dem Schuljahr 2009/10 wurden die Goerdeler-Grundschule und die Pommern-Oberschule aufgelöst und die verbliebenen Klassen der Grundschule in die Paula-Fürst-Schule übernommen (die Hauptschüler gingen über an die Peter-Ustinow-Schule). Und obwohl es diese Schule erst im vierten Jahr gibt, zeigt doch dieser Rückblick, dass sie auf eine lange Tradition zurückblicken kann, seien es die 104 Jahre, die das Gebäude dort steht, seien es die 107 Jahre, seitdem am 1. April 1906 die 25. Gemeindeschule gegründet wurde oder sei es die Umsetzung reformpädagogischer Unterrichtsprinzipien, die Paula Fürst in der Nazizeit in Charlottenburg einführte.
Dr. Michael Roeder (März 2013)
Der Text beruht auf Gesprächen mit Beschäftigten und folgenden Materialien:
Aktenordner „Nach 1945 aufgelöste Grundschulen. Ehemalige Gemeindeschulen“ [Archiv Heimatmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf]
Berliner Bezirkslexikon, Charlottenburg-Wilmersdorf (Edition Luisenstadt): Goerdeler-Grundschule, Pommern-Oberschule
"Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, hg. vom Amt für Denkmalpflege im Auftrag des Senators für Bau- und Wohnungswesen, Berlin 1961 - Band: Stadt und Bezirk Charlottenburg, S.294 (auf der Grundlage der Akten des Bauaufsichtsamtes Charlottenburg und des Berichts über die Verwaltung und den Stand der Gemeinde-Angelegenheiten der Stadt Charlottenburg für das Verwaltungsiahr 1909, Charlottenburg 1910, S.63)
Konferenzprotokolle zwischen 30.10.1945 und 1.12.1970
Pressestelle des Bezirksamts, Lexikon: Charlottenburg-Wilmersdorf von A bis Z: Schulgebäude: Reformschule
Schulentwicklungsplan (SEP) Charlottenburg-Wilmersdorf 2009
Gudrun Wedel, Berliner Schulalmanach. Verzeichnis aller öffentlichen allgemeinbildenden Schulen in Berlin (West) (1952-1982), Hohengehren (Schneider-Verlag) 1993 [Archiv Heimatmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf, Aktenordner „Schulgeschichte. Materialien“]
Horst Wieder, Verzeichnis der öffentlichen Schulen Charlottenburgs von 1867 bis 1951, Bezirksamt Charlottenburg Abt. PVKultur/Heimatmuseum Charlottenburg, 1997 [Archiv Heimatmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf]